Zarter Vogel Liebe

Tschingis Aitmatow – „Dshamilja“

von Frank Becker

Zarter Vogel Liebe
 
Von Wendungen des Lebens
 
Der 15jährige Said, der im zentralasiatischen nordöstlichen Kirgisien, irgendwo im Tal des Kukureuflusses in der Hof- und Dorfgemeinschaft seines Kolchos nach althergebrachten Sitten und in der familiären wie dörflichen Hierarchie lebt und noch nicht viel vom Leben weiß, muß in der Gemeinschaft seine in den Krieg gezogenen Brüder vertreten. Vor allem hat er seine junge Schwägerin, die schöne Dshamilja vor den Zudringlichkeiten der wenigen verbliebenen Burschen zu schützen. Daß er sich dabei unschuldig in Dshamilja, mit der ihn eine federleichte Freundschaft verbindet verliebt, kann nicht ausbleiben. Es ist der Sommer des dritten Kriegsjahres 1943, ein heißer Sommer, in dem ihm und Dshamilja sowie dem wortkargen verletzten Kriegsheimkehrer Danijar die Aufgabe zufällt, die Getreidesäcke des Kolchos mit Pferdewagen zum weit entfernten Bahnhof zu bringen. Es entsteht in den folgenden Wochen eine vertrauensvolle, wenn auch angespannte Gemeinschaft, in der sich Danijar ganz allmählich seinen beiden Gefährten öffnet und Said bei der selbstbewußten und selbstbestimmten Dshamilja eine bemerkenswerte Veränderung beobachtet. Ein Bild, das der begabte Said aus der Stimmung einer entscheidenden Situation heraus zeichnet, wird zum Dokument einer tiefen, verbotenen Liebe.
 
Mit raffiniert einfach gestalteter, doch ausdrucksvoller Sprache beschreibt Aitmatow der kargen archaischen Weite der kirgisischen Steppe, der dörflichen Umgebung und den mit straffen Strichen skizzierten Charaktere angepaßt die unausweichliche Verknüpfung von Schicksalen – wachen Blickes, warmherzig und versöhnlich.
»Ich schwöre es, es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt.« hat Louis Aragon 1959 über diese von zarten wie von kräftigen Bildern erfüllte Erzählung von Tschingis Aitmatow (1928-2008) gesagt. Auch wenn das vielleicht nicht für jeden Leser der Fall sein sollte, es ist auf jeden Fall ein tief berührendes Buch.
Man sollte allerdings Louis Aragons ausführliches Vorwort dieser Ausgabe besser als Nachwort betrachten und es als solches, um die gefühlvolle Pointe nicht zu verderben, erst nach der Erzählung lesen.
 
Tschingis Aitmatow – „Dshamilja“
Erzählung – Übersetzung aus dem Russischen von Gisela Drohla
© 1988/2022  Suhrkamp, 34. Auflage, 123 Seiten, Broschur – ISBN: 9783518380796
6,- €
 
Weitere Informationen: www.suhrkamp.de